Hermann Noelle

Der Wall der tausend Türme

Stuttgart : Silberburg-Verl. Jäckh, 1958

(Direkt zur Bewertung)

Inhalt

Der Ich-Erzähler wird am Limes aus unserer Zeit in die Vergangenheit zurückversetzt, wo er als Alamanne Hartger zusammen mit seinem Stamm durch einen Angriff seine Mutter befreien will, die von den Römern als Sklavin verschleppt wurde. Hartger und sein Bruder Gernot dringen heimlich ins römische Reich ein, um nach der Mutter zu suchen. Sie geben sich als gallischer Keramikhändler und sein Sklave aus und reisen so nach Condate. Dort erlebt Hartger staunend das Leben in einer römischen Stadt.

Ein als Sklave dienender Landsmann versteckt die beiden Germanen in einem Grabmal; sie lernen die vielen verschiedenen Kulte der Römer kennen. Am nächsten Morgen suchen sie nach ihrer Mutter, die sie in einer großen Villa finden. Sie nehmen heimlich mit ihr Kontakt auf und werden von ihr versteckt, als ein Cornicular von der Straßenpolizei auf sie aufmerksam wird. Als Sklavin verkleidet, beobachtet Hartger das Fest, das der Herr seiner Mutter am Abend gibt.

Als Hartger und Gernot die Villa verlassen wollen, fängt sie der Cornicular Emeritius und legt sie in Eisen. Ein Richter macht ihnen das Angebot, als Soldaten zu dienen, aber sie lehnen ab. Daraufhin verurteilt er sie zum Kampf in der Arena. Nach mannigfachen anderen Schauspielen müssen die beiden Brüder gegeneinander antreten. Gernot opfert sein Leben, damit Hartgers Heil keinen Schaden leidet. Wegen Kampfesverweigerung wird Hartger ans Kreuz geschlagen. Halbtot nimmt man ihn wieder ab, weil ihn der Sklavenhändler Hyrkanus kaufen will.

Von anderen Sklaven erfährt Hartger weitere Einzelheiten über das römische Reich. Sein neuer Herr macht ihn zum Leibsklaven, aber weil Hartger sich eigensinnig zeigt, wird er bestraft.

Durch eine Kloake entkommt Hartger und überquert beim Murrkastell den Limes, um nach Hause zurückzukehren. Er durchquert den fast menschenleeren Dunkelwald, der römisches und germanisches Gebiet trennt, bis er zu seinem Dorf kommt, wo sein Vater ihn als letzten Überlebenden der Sippe empfängt. Ein Angriff auf das römische Reich wird geplant, und die Götter sind gewogen.

Ein römisches Mädchen, Martinula, kommt auf den Hof, die von einer anderen Schar Alamannen jenseits der rätischen Mauer geraubt wurde. Sie stammt aus vornehmem Haus und ist die Verlobte des Richters aus Condate. Hartgers Vater will sie nicht gegen seine Frau austauschen. Hartger freundet sich mit ihr ein wenig an, bleibt aber mißtrauisch. Eines Tages ist Martinula verschwunden, offensichtlich auf der Flucht Richtung Limes. Hartger verfolgt sie und findet sie von einem Auerochs-Stier bedroht, der auch ihn ebenso wie einen brittonischen Späher, mit dem Martinula sich treffen wollte, zwingt, auf einen Baum zu flüchten. Schließlich kann Hartger mit einem glücklichen Blattschuß den Stier erlegen.

Die Römer sind über den Limes gedrungen. Zusammen mit einem weiteren Jungmann gerät Hartger in Gefechte mit brittonischen Spähern. Eine Ala rückt auf einer gebahnten Straße vor und läßt sich von den Germanen auch durch mehrere Verhaue nicht lang aufhalten. Hartger reitet, um das Dorf zu warnen. Es wird von einer römischen Turma überfallen; zusammen mit den Alten und Frauen gelingt es Hartger in erbittertem Kampf, die Angreifer zurückzuschlagen.

Beim "Salzort" liegen sich Römer und Germanen gegenüber; während auf der einen Seite des Flusses die Ala ist, hat sich auf dem germanischen Ufer ein Manipel asturischer Auxilien verschanzt und kann nicht mehr zurück. Die Lage für die Römer wird immer bedrohlicher, und schließlich müssen sie in Verhandlungen einem Rückzug zustimmen; die Asturer müssen ihre Waffen zurücklassen, für den freien Abzug und die Rückgabe Martinulas sollen die Römer eine Herde Rinder geben. Hartger begleitet sie als Geisel bis zum Limes. Dort verbringt er eine Nacht und trifft den Sklavenhändler Hyrkanus wieder.

Später begleitet Hartger die Männer, als sie Martinula zum Limes bringen und die Rinder abholen wollen. Der römische Präfekt ist auch bereit, Hartgers Mutter zurückzugeben, doch sie verlangt von ihrem Mann, sie mit Waffengewalt zu befreien. Auf dem Rückweg rauben Römer aus einem anderen Kastell die Rinder.

Hartger reitet mit seinem Vater und den Sippenältesten zum Sitz des Fürsten. Dort wird über einen Angriff auf die Römer beraten, doch eine endgültige Entscheidung fällt noch nicht. Hartger sieht des Fürsten schöne Tochter, die eventuell den Göttern geopfert werden soll. Ihr Bruder wurde aus dem Stamm ausgestoßen, weil er es mit Rom hielt; Hartger ist ihm im Grenzwald begegnet. Ein römischer Händler gibt Hartger eine Alraune, die er dem Kommandanten der Ala geben soll. Wie sich jedoch bei der Wahrsagerin herausstellt, die Hartger und sein Vater aufsuchen, ist es in Wirklichkeit eine Warnung an die Römer, daß die Alamannen die Waffen ergreifen werden.

Hartger und einige andere beobachten das römische Murrkastell. Nachts schleicht sich Hartger über den Wall; in einem der Türme wird sein Bruder gefangengehalten, der damals den Kampf in der Arena überlebt hat! Er fängt einen der Soldaten: es ist der verstoßene Sohn des Fürsten. Hartger kann es nicht über sich bringen, ihn zu töten, wie die Sitte verlangt. Endlich greifen die Alamannen an. Doch die Besatzung des Kastells wehrt sich erbittert, vor allem mit Hilfe ihrer Geschütze; zudem bindet sie die Gefangenen, darunter Gernot, an Kreuzen an der Mauer fest, um ein Ausräuchern zu verhindern. Doch die Germanen können das Kastell stürmen, auch wenn dabei die Gefangenen umkommen. Hartger tötet den Römer, der seinen Großvater erschlagen und seine Mutter verschleppt hat. Die Besatzung des Kastells wird bis auf den letzten Mann niedergemacht, und einer zu Hilfe kommenden Ala ergeht es kaum besser.

Mit seinem Vater und dessen Schar reitet Hartger gegen Condate. Sie können praktisch ohne Gegenwehr in die Stadt eindringen, nur das Kastell bleibt von den Römern besetzt. Die Germanen lassen den Töpfer Clodius und Hyrkanus gegeneinander kämpfen; Clodius gewinnt.

Hartger reitet zur Villa, um seine Mutter zu befreien, doch man hat sie fortgeschafft. Das Kastell verteidigt sich zäh mit Geschützen. Die Ala kommt zum Entsatz. Vor der Stadt entbrennt eine Reiterschlacht, bei der die Germanen siegreich bleiben, doch Teile der Römer können sich in das Kastell zurückziehen, bevor der Fürst mit seinen Männern erscheint. Der Sohn des Fürsten ist wieder bei den Römern.

Nachts brechen die Ala und die Besatzung des Kastells aus; die Germanen folgen ihnen auf der Straße nach Portus und setzen ihnen auf dem Marsch ständig zu. Von Portus nähert sich ein Teil der VIII. Legion. Bevor er herankommt, greifen die Germanen die Ala an und machen sie nieder. Unter den Gefallenen ist auch der Sohn des Fürsten. Ohne in den Kampf einzugreifen, kehren die Manipel der Legion nach Portus zurück. Hartger überholt sie und kann seine Mutter aus der Stadt holen und zum Vater zurückbringen.

Der Töpfer Clodius spielt sich als Herzog auf, und die Germanen lassen ihm seinen Spaß bei einem Einschüchterungsangriff auf Portus. In der Nacht verlassen viele Frauen die Stadt und stellen sich unter den Schutz von Hartgers Mutter. Durch eine List bringen die Germanen die Legionäre dazu, sich zum Rhein zurückzuziehen.

Die Germanen haben das Land bis zum Rhein erobert; auf der anderen Flußseite zieht die Legion sich nach Argentorate zurück. Hartger wird vom Fürsten geehrt, aber bei einer Reiterschlacht verwundet. Im Wundfieber führt man ihn nach Augusta Raurica mit, wo die Alamannen mit dem Kaiser Postumus verhandeln, der ihnen das eroberte Land zugesteht und zusätzliche Tributzahlungen, wenn sie für ihn gegen den anderen Kaiser Gallienus kämpfen. Hartger wird wieder gesund. Sein Stamm nimmt neues Land in Besitz in der Gegend um Condate; der Fürst gibt Hartger seine Tochter zur Frau.

Der Ich-Erzähler mahnt, die Leistung der Germanen, die als einzige dem Römerreich trotzen konnten, nicht zu vergessen.

Bewertung

Die Geschichte atmet den Geist einer Germanentümelei, die im Jahre 1958 eigentlich hätte überwunden sein müssen. Dem Verfasser (zu ihm siehe Nachtrag) ging es ganz offensichtlich nicht um eine historische Schilderung der Ereignisse beim Fall des Limes. Wessen Geistes er ist, wird besonders am Schluß deutlich, wenn er die Lage des Nachkriegsdeutschlands mit der Germaniens unter römischer Herrschaft vergleicht:

"Genau am Ort des Reiterkastells steht die große Reiterkaserne, von der auch ich, wenig älter als Hartger, im grauen Rock ausgezogen bin. ... In der Kaserne liegt jetzt wieder fremde Besatzung." (S. 303)

"Im Frieden von Erde und Himmel glänzt das Land, über das vor wenigen Jahren der zweite Weltkrieg ging.
Sind wir glücklich, darin zu wohnen?
Wir wären es, wenn es ein Glück ohne Freiheit gäbe." (S. 304)

Unter dieser Voraussetzung ist verständlich, daß das Bild der Germanen und Römern rein klischeehaft gezeichnet ist: es gibt (bis auf den Sohn des Fürsten, der aber zum Schluß seinen Verrat bereut) keinen schlechten Germanen; sie werden als wahre Übermenschen gezeichnet, sind unbesiegbare Kämpfer (die ohne Schwierigkeiten gegen sie geworfene Speere aus der Luft fangen können), unfehlbare Bogenschützen vom Schlage buddhistischer Zen-Meister und ohne jede moralische Schwäche, noch nicht einmal Trunksucht. Viele Züge stammen dabei, aber weit übersteigert, aus Tacitus' Germania, wobei der Autor nicht zögert, auch viel spätere mittelalterliche Überlieferungen heranzuziehen, wo es ihm gerade paßt. Dafür gibt es bei Noelle keinen einzigen ehrenhaften Römer.

Die Germanen haben bei ihm eine welthistorische Mission zu erfüllen, nämlich das morsch gewordene Römerreich zu zerstören:

"Rom ließ keine andere Wahl als die zwischen Unterwerfung und Vernichtung. Widerstanden haben ihm im Abendland nur die Germanen. Ohne ihren jahrhundertealten Kampf um die Freiheit und seinen [sic!] endlichen Sieg ist das heutige Abendland nicht zu denken. Das späte Rom war zahnlos geworden. Großes Neues konnte nur wachsen, wenn die noch nicht unterworfenen Völker nach ihrem Gesetz werden durften." (S. 306)

Eine solche Passage atmet so vollständig den Geist des Dritten Reiches, daß zu prüfen wäre, ob der Autor (anscheinend ein ehemaliger Berufsoffizier in Reichswehr und Wehrmacht) nicht schon vor 1945 ähnliches veröffentlicht hat. (Siehe Nachtrag.) Immer wieder wird im Text das Zusammenleben verschiedener Völker wie im Römischen Reich abgelehnt; man beachte auch die rassistische Darstellung des Negersklaven Wamba. Bezeichnenderweise spielt auch das Christentum überhaupt keine Rolle und wird nur in drei Zeilen erwähnt (S. 25), während die germanische Religion (jedenfalls was Noelle dafür ausgibt) ausführlich geschildert wird.

Eine historische Einzelkritik kann unterbleiben. Über weite Strecken vor allem in der ersten Hälfte wirkt der Roman sehr didaktisch; der Verfasser scheint sich bei seiner ausführlichen Schilderung antiquarischer Einzelheiten eng an die als "Benutzte Literatur" aufgeführten Werke gehalten zu haben, auch wenn es der Situation einer Provinzstadt wie Condate (nicht etwa Reims, sondern das spätere Stuttgart-Cannstadt) nicht immer angemessen ist; Hartger soll vor allem bei seinem ersten Besuch im Römerreich anscheinend möglichst viele Aspekte des römischen Lebens kennenlernen (Religion, Feste, Schauspiele, Hinrichtung, ...). Vieles davon ist einigermaßen zutreffend wiedergegeben, wenn auch durchweg unter Rückgriff auf Klischees, wie schon betont. Der Gang der Handlung ist ferner nicht frei von Unwahrscheinlichkeiten (Hartger trifft immer wieder auf eine begrenzte Anzahl von Personen wie z. B. den Soldaten mit der Narbe, der seine Mutter entführte).


Nachtrag: Hermann Noelle war unter seinem ursprünglichen Namen Helmut Stellrecht keineswegs, wie ursprünglich vermutet, ein einfacher Wehrmachtsoffizier, sondern hoher nationalsozialistischer Funktionär der Hitlerjugend und des Amts Rosenberg. Als Stabsleiter kam er dort in der Hierarchie direkt hinter Alfred Rosenberg selbst. Er bekleidete den SS-Rang eines Oberführers (Dienstgrad zwischen Oberst und General) und war nach dem Krieg NS-apologetisch tätig, u. a. mit einer Hitler-Biographie im einschlägig berüchtigten Grabert-Verlag.

Erste Fassung: 17. Juli 2001; im neuen Layout 31. Oktober 2004
04. Februar 2006: Nachtrag.