Pierre Grimal

Les mémoires d’Agrippine

Paris : de Fallois, 1992,
dt. Übers.: Die Wölfin von Rom. – München : Goldmann, 1994.

(Direkt zur Bewertung)

Inhalt

Agrippina beginnt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, an dem Abend, als sie miterleben muß, wie Nero seinen Stiefbruder Britannicus vergiftet.

1. Buch: Die Zeit meines Vaters

Agrippina bekam als Kind von ihrer Mutter die dramatischen Umstände erzählt, die bei ihrer Geburt herrschten: Ihr Vater Germanicus war Stellvertreter des Kaisers Augustus in Gallien und Germanien und mußte beim Tod des Augustus eine Rebellion der Legionen unterdrücken, die lieber ihn anstelle von Tiberius als neuen Kaiser gesehen hätten.

Einige Jahre später begleitet Agrippina mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern, darunter der vorlaute Gaius, ihren Vater auf einer offiziellen Mission in den Osten des Reiches. Das junge Mädchen lernt, ohne zunächst alles zu verstehen, einiges über die Machtpolitik. So befürchten Germanicus und seine Frau Unheil von Piso, dem neuen Statthalter in Syrien, der, vielleicht mit Wissen des Kaisers, bewußt die Konfrontation sucht. Agrippina versucht zu verstehen, was Piso mit seinem Vorwurf meint, Germanicus lebe nicht wie ein Römer, sondern nach griechischer Art. Mit ihrer Familie reist sie durch den ganzen östlichen Mittelmeerraum bis nach Ägypten, wo sie einiges über die alte Religion des Landes hört.

Nach Syrien zurückgekehrt, stirbt Germanicus plötzlich. Man beschuldigt sofort Piso und seine Frau Plancina, ihre Hände im Spiel zu haben. Agrippina erlebt zum ersten Mal den Tod und begleitet ihre Mutter mit der Asche des Germanicus nach Rom zurück. Piso wird angeklagt, aber Agrippina ist sich auch im Rückblick nicht sicher, ob er wirklich in den Tod des Germanicus verwickelt war. Mit ihrer Mutter besucht sie die uralte Witwe des Augustus, Livia.

2. Buch: Mein Großonkel Tiberius

Germanicus’ Witwe gerät in eine zunehmende Konfrontation mit Tiberius, weil sie für das dynastische Recht ihrer Kinder kämpft. Während Agrippina heranwächst, macht sie sich Gedanken über das Wesen der Götter, die Größe der römischen Herrschaft und die Stellung der Frauen in Rom. Sie befreundet sich mit ihrem Onkel Claudius, der von Augustus an einer öffentlichen Laufbahn gehindert wurde und seitdem seinen Studien lebt. Er reist mit ihr nach Etrurien.

Tiberius trägt schwer an seiner Herrschaft und versucht, sich mit einem Panzer der Unnahbarkeit zu umgeben. Er stützt sich zunehmend auf den Praetorianerpraefecten Seianus, vor allem nachdem dieser ihm bei einem Unglück das Leben gerettet hat. Seianus beseitigt Drusus, den Sohn des Tiberius, und weitere Personen, die seinem Aufstieg im Wege stehen könnten. Dann geht er gegen Drusus und Nero, die beiden älteren Brüder Agrippinas, vor, die er bei Tiberius als machtgierig verleumdet. Nach dem Willen des Tiberius soll Agrippina Cn. Domitius Ahenobarbus heiraten, der zwar vornehm, aber übel beleumundet ist. Tiberius reist aus Rom nach Campanien ab, wo er sich fortan auf Capri aufhält, während Seianus verstärkt gegen Agrippinas Brüder intrigiert. Ihre Mutter wird in Herculaneum unter Hausarrest gestellt. Agrippina wird mit Ahenobarbus verheiratet, darf auf Befehl des Kaisers aber keine Kinder mit ihm haben. Livia, die bisher ihre schützende Hand über die Familie des Germanicus gehalten hat, stirbt, und der junge Gaius, der zuletzt in ihrem Haushalt gelebt hat, hält die Trauerrede, ein Meisterwerk der Heuchelei. Agrippinas Mutter und Nero werden auf einsame Inseln verbannt, Drusus eingekerkert. Alle drei läßt Tiberius in der Gefangenschaft sterben, auch wenn Seianus inzwischen gestürzt ist.

3. Buch: Mein Bruder Gaius

Gaius lebt jetzt bei seiner Großmutter Antonia und wird von ihr überrascht, wie er mit seiner Schwester Drusilla Inzest begeht. Später lebt er zeitweilig beim alten Tiberius auf Capri, der ihn in der Redekunst unterrichtet und mit Iunia Claudilla verheiratet; sie stirbt aber kurz darauf. Agrippina hofft auf die Thronbesteigung ihres Bruders und hält deswegen in der zunehmend unbefriedigenderen Ehe mit Domitius aus.

Dann kommt die Nachricht, daß Tiberius tot ist; welche Rolle Gaius dabei gespielt hat, kann Agrippina nicht erfahren. Jetzt darf sie endlich ein Kind von Domitius bekommen und bringt in einer schweren Geburt einen Sohn, Nero, zur Welt, auf den sie fortan ihre Hoffnungen setzt. Gaius beginnt seine Herrschaft mit demonstrativen Ehrungen für seine Familie, doch Agrippina erkennt, daß er vor allem ein meisterhaftes Schauspiel abgibt. Er nimmt sich, auch wenn er seine Beziehung zu Drusilla fortsetzt, eine neue Frau, Orestilla, die er ihrem eigentlichen Bräutigam fortnimmt. Dann erkrankt er schwer und ist nach seiner Genesung sehr verändert, vor allem grausamer.

Agrippina lernt Seneca kennen, mit dem sie sich öfter unterhält, auch wenn sie mit manchen Punkten seiner stoischen Philosophie nicht einverstanden ist, vor allem in Bezug auf ihre ehrgeizigen Pläne. Gaius, der sich oft mit seinen drei Schwestern vergnügt, ist tief getroffen, als Drusilla stirbt. Seine neue Frau verstößt er nach kurzer Zeit, während Agrippina eine heimliche Affäre mit dem aus Sizilien stammenden Tigellinus beginnt, aber auch mit Pallas, einem Freigelassenen aus dem Haushalt des Claudius.

Gaius wird immer sprunghafter und beschuldigt seine noch lebenden Schwestern Livilla und Agrippina der Beteiligung an einer Verschwörung gegen ihn. Er schickt sie auf eine Insel in die Verbannung, wo Agrippina heimliche Nachrichten von Pallas über die Ereignisse in Rom erhält. Der kleine Nero lebt bei seiner Tante Lepida, deren Tochter Messalina Claudius heiratet. Schließlich macht eine Verschwörung von Gardeoffizieren der Gewaltherrschaft des Gaius ein Ende. Zum neuen Kaiser wird Claudius ausgerufen, und Agrippina, die wieder nach Rom zurückkehren darf, macht sich große Hoffnungen für die Zukunft.

4. Buch: Mein Onkel Claudius

Agrippinas Mann ist inzwischen gestorben, ihr Haus in Rom verlassen und verwüstet. Sie kann nicht verstehen, wieso Gaius’ Herrschaft so mißraten ist, und unterhält sich darüber mit Seneca, den sie als Erzieher ihres Sohnes ins Auge faßt, um ihn auf eine weise und gerechte Herrschaft vorzubereiten.

Der neue Kaiser Claudius steht völlig unter dem Einfluß seiner Frau Messalina. Agrippina will wieder heiraten, um ihren Mann als eventuellen Nachfolger des Claudius bereitzuhalten. Sie entscheidet sich gegen Sulpicius Galba, obwohl ihm einst die Herrschaft prophezeit wurde, und heiratet Passienus Crispus, den Mann einer Schwägerin. Sie holt auch Nero von Lepida zurück, die inzwischen Appius Silanus geheiratet hat.

Am Hof des Claudius haben vier Freigelassene, darunter Pallas, großen Einfluß. Sie sind Messalina ergeben, deren Herrschaftswillen Agrippina zwar nachvollziehen kann, aber für unberechtigt hält gegenüber dem Anspruch ihrer eigenen Familie. Messalina intrigiert gegen Livilla und läßt sie wie ihren angeblichen Liebhaber Seneca in die Verbannung schicken. Sie beginnt ein ausschweifendes Leben und läßt ihren Stiefvater Silanus hinrichten, als er sich ihr verweigert. Während Claudius in Britannien ist, feiert Messalina mit der Oberschicht Roms im Palast Orgien. Ihren Mann kann sie unwissend halten.

Währenddessen führen Agrippina und Crispus ein zurückgezogenes Leben, zu ihrem eigenen Schutz, denn selbst die verbannte Livilla wird auf Betreiben Messalinas ermordet. Claudius läßt zahlreiche Schauspiele veranstalten, um das Volk zufrieden zu stimmen. Auch Agrippina besucht sie heimlich und erlebt, wie Messalina die Spiele benutzt, um sich in der Caesarenloge zu präsentieren, die sie außer mit Claudius auch mit C. Silius teilt, einem jungen schönen Mann, in den sich die Kaiserin zur Zeit verguckt hat. Um sich näher über die Intrigen im Palast zu unterrichten, nimmt Agrippina wieder Kontakt mit Pallas auf, der wie sie befürchtet, daß Messalinas Ehrgeiz sich auch auf den politischen Bereich erstreckt; sie will mit Silius als Platzhalter die Nachfolge ihres Sohnes Britannicus sichern, genau so, wie dies Agrippina für Nero plant.

Agrippina verfolgt weiter die Intrigen Messalinas, die Livillas ehemaligen Mann Vinicius und den reichen Valerius Asiaticus umbringen läßt. Bei den Jahrhundertspielen jubelt die Menge Nero zu, und Agrippina muß noch mehr Angst um sich und ihren Sohn haben.

Als Messalina einen der mächtigen kaiserlichen Freigelassenen hinrichten läßt, erkennen die übrigen, Pallas, Callistus und Narcissus, daß sie jetzt handeln müssen. Sie benutzen die Gelegenheit, als Messalina schamloserweise ihre Hochzeit mit Silius feiert. Claudius will die Vorwürfe gegen seine Frau erst nicht glauben, übergibt dann aber Narcissus das Kommando über die Truppen. Der Freigelassene läßt Messalina und ihre Liebhaber hinrichten.

5. Buch: Mein Mann Claudius

Agrippina will nun Claudius heiraten, doch muß sie vorher Crispus loswerden. Zu ihrer Überraschung scheidet er freiwillig aus dem Leben, um ihren Plänen nicht im Wege zu stehen, und hinterläßt ihr ein großes Vermögen. Die drei mächtigen Freigelassenen treten bei Claudius für je eine andere Heiratskandidatin ein. Pallas hat für Agrippina am meisten Unterstützung, doch wäre eine Ehe mit ihrem Onkel Claudius rechtlich Inzest. Auf Rat des Zensors Vitellius soll Agrippina ihren Sohn mit Claudius’ Tochter Octavia verheiraten; deren Verlobten Silanus schafft er mit einer Intrige aus dem Wege. Ebenfalls auf Betreiben des Vitellius erlaubt der Senat die Ehe von Onkel und Nichte. Agrippina hat mit der Heirat eine wichtige Zwischenstation erreicht, will aber weiterhin ihren Sohn zum Kaiser machen. Nero war zwischenzeitlich wieder bei Lepida untergebracht, um ihn vor Messalina zu schützen; Agrippina holt ihn jetzt zu sich und beschließt, ihn von Seneca in der Redekunst unterweisen zu lassen. Dazu läßt sie den Philosophen aus der Verbannung zurückkommen. Als Lehrer in militärischen Dingen bestellt sie Afranius Burrus. Auch sonst ist sie sehr aktiv: sie mehrt ihr ererbtes Vermögen und vernichtet potentielle Rivalinnen durch Hinrichtung oder Verbannung.

Der zurückgekehrte Seneca ahnt, daß Agrippina ihren Sohn einst an Claudius’ Stelle setzen will. Pallas und Agrippina bringen Claudius dazu, Nero zu adoptieren und ihm etwas vor der Zeit die Erwachsenentoga zu verleihen, wodurch er gegenüber dem jüngeren Britannicus deutlich herausgehoben wird. Britannicus ahnt, daß er zurückgesetzt werden soll, und Agrippina versucht zielstrebig, ihn am Hof zu isolieren. Sie ersetzt seine Erzieher durch ihr ergebene und macht Burrus zum neuen Praetorianerpraefecten.

Claudius läßt einen See trockenlegen und dort Kampfspiele veranstalten, was beides nicht ohne Schwierigkeiten vor sich geht. Agrippina beschließt, gegen Narcissus und Lepida vorzugehen, die sie für die gefährlichsten Parteigänger des Britannicus hält. Lepida wird unter dem Vorwurf der Magie hingerichtet, Narcissus hat jedoch eine starke Stellung beim Kaiser. Agrippina plant, Claudius umzubringen, bevor die Gegenseite gegen sie und Nero zuschlagen kann. Ihre anfänglichen Skrupel überspielt sie, indem sie sich nach einem Gespräch mit Seneca einredet, daß sie zum Wohle des Staates einen Tyrannen beseitigen würde.

Als Narcissus aus Gesundheitsgründen Rom verläßt, ist die Gelegenheit da. Agrippina läßt von einer Giftmischerin eine Pilzmahlzeit vergiften. Mit Hilfe eines Arztes, der den endgültigen Tod herbeiführt, verschleiert sie den Tod des Kaisers eine Zeitlang, um einen geeigneten Moment für die Ausrufung Neros abzuwarten. Als Burrus der Garde Nero als neuen Herrscher präsentiert, regt sich kein nennenswerter Widerstand, und Agrippina hat ihr Ziel erreicht.

6. Buch: Mein Sohn Nero

Der Herrschaftswechsel gelingt ohne Probleme. Nero verspricht seiner Mutter und Seneca, in ihrem Sinne zu herrschen. Agrippina schafft einen weiteren möglichen Thronanwärter, M. Silanus, zur Seite, ebenso Narcissus, auch wenn Nero damit zunächst nicht einverstanden ist.

Aber Agrippina muß erkennen, daß ihr Einfluß unter den neuen Verhältnissen begrenzt ist. Sie darf als Frau nicht an Senatssitzungen teilnehmen, und als sie es doch versucht, kommt es zu einem Eklat, den Seneca und Burrus abwenden. Agrippina verliert allmählich die Kontrolle über ihren Sohn und muß hinnehmen, daß er sich mit Billigung Senecas die Freigelassene Acte als Geliebte hält. Sie wird angesichts ihrer zunehmenden Zurücksetzung unvorsichtig und weist im Zorn darauf hin, daß es ja auch noch Britannicus als Thronanwärter gebe. Damit erreicht sie genau das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigt: Nero trennt sich nicht von Seneca und Burrus, um zu ihr zurückzukehren, sondern er läßt seinen Rivalen umbringen.

Agrippina hat ihren Einfluß verloren und muß aus dem Palast ausziehen. In der bitteren Erkenntnis, ihren Sohn verloren zu haben, beendet Agrippina die Niederschrift ihrer Memoiren.

In den folgenden Jahren fügt sie noch einige Nachträge an.

[29. April 55:] Agrippina wird vorgeworfen, eine Verschwörung gegen ihren Sohn angezettelt zu haben. Sie kann sich mit Mühe verteidigen.

[1. Juli 56:] Agrippinas Stellung im Palast ist wieder etwas besser, aber immer noch prekär.

[1. April 57:] Pomponia Graecina, einer Frau aus der Oberschicht, wird vorgeworfen, einem seltsamen Aberglauben anzuhängen.

[7. Mai 58:] Agrippina begegnet zum ersten Mal Neros neuer Flamme Sabina Poppaea.

[13. September:] Acte befürchtet, daß Poppaea zu großen Einfluß auf Nero ausüben wird, wenn sie ihre Rivalin verdrängt hat, und bittet Agrippina, die Heirat der beiden zu verhindern.

[13. Januar 59:] Agrippina kann Nero nicht mehr beeinflussen, obwohl sie bereit ist, bis zum Inzest zu gehen. Sie reist über Tusculum nach Antium.

[19. März:] Nero lädt seine Mutter zu einer Begegnung nach Bauli ein.

Novissima Verba

Agrippina ist nur knapp dem Mordanschlag entkommen, den Nero auf sie verüben ließ. Sie weiß, daß ihr Schicksal besiegelt ist, und wartet auf den Mörder.

Bewertung

Der Professorenroman über antike Themen ist noch nicht ganz tot, zumindest in den romanischen Ländern, wo Universitätslehrer wie Valerio Massimo Manfredi, Jean-Pierre Néraudau und eben Pierre Grimal in die Fußstapfen eines Dahn oder Ebers treten. Es gibt zwar keine gelehrten Fußnoten mehr (die bleiben jetzt Jugendbuchautoren wie H. D. Stöver überlassen), aber zwei Charakteristika der academic novel finden sich nach wie vor: eine enge Orientierung an den antiken Quellen und – damit vielleicht zusammenhängend – eine stellenweise etwas ermüdende Erzählweise, weil die Autoren zu wenig Fiktion mit den überlieferten Fakten verbinden. Jedenfalls ist dies bei Grimals hier vorzustellendem Roman so, der durch seine strenge Fixierung auf Agrippinas Binnenperspektive eine gewisse Eintönigkeit nicht ganz vermeiden kann (es gibt aber auch durchaus spannend erzählte Passagen, so Agrippinas Entschluß, Claudius zu vergiften).

Noch einem anderen Subgenre des historischen Romans gehört das Buch an, der fiktiven Autobiographie. Von Agrippina ist wie von manchen Gestalten der römischen Geschichte (u. a. Sulla und Augustus) bekannt, daß sie commentarii hinterlassen hatte, in denen sie vitam suam et casus suorum posteris memoravit (Tac. ann. 4, 53, 2). Über vereinzelte direkt bezeugte oder zu vermutende Zitate hinaus ist davon nichts erhalten und natürlich eine verlockende Anregung für einen modernen Autor, in der Nachfolge von Graves oder Yourcenar dieses verlorene Werk für eine heutige Leserschaft nachzuschöpfen. (Bei Agrippina hat dies, praktisch gleichzeitig mit Grimal, auch die portugiesische Autorin Seomara da Veiga Ferreira getan; Grimal selbst hat schon früher die Memoiren des Cicerofreundes Atticus nachempfunden.)

Daß dabei keine philologisch exakte Rekonstruktion gemeint sein kann, ist natürlich klar. Dies würde nicht nur die Fähigkeiten auch des besten Wissenschaftlers übersteigen, sondern vor allem die Erwartungen der heutigen Leser enttäuschen, denn über ihre Gefühle und tatsächlichen Absichten dürfte Agrippina, wie es der Tradition des commentarius entsprach, in ihrem verlorenen Werk nichts mitgeteilt haben – aber gerade diese Passagen sind es doch, die für uns den Reiz solcher Erinnerungen ausmachen. Grimal läßt die Tochter des Germanicus folglich auch offen über ihre Empfindungen und Ziele sprechen. Zwei Punkte stellt er dabei in den Vordergrund:

  1. Agrippinas im Laufe ihres Lebens noch zunehmende Fixiertheit auf die führende Rolle ihrer Familie. Der dynastische Dünkel, den sie in vielen Passagen äußert, erscheint fast schon grotesk überspitzt, aber wohl nicht völlig unzutreffend, wenn man die antiken Nachrichten über Agrippina (und schon ihre gleichnamige Mutter) beachtet.
  2. Ihre (mit dem ersten Punkt manchmal verknüpfte) lebenslange Beschäftigung mit dem Willen der Götter und eine ambivalente Haltung z. B. zu Orakeln und Vorzeichen (so macht sie sich S. 248 über die Volksmeinung lustig, daß der Schrei der Eule ein Unglückszeichen sei, um noch im selben Atemzug den Uhu als Trauervogel anzusehen).

Wie bei einem Autor, der aus dem Fach kommt, zu erwarten, hat er für den Roman die antiken Quellen umfassend ausgewertet, übrigens nicht nur die schriftlichen, sondern auch archäologische (für die Beschreibung der Villa der Livia z. B. die bekannte Augustusstatue und die jetzt im Palazzo Massimo alle Terme ausgestellten Gartenfresken). Es gibt ganz wenige Versehen, die man natürlich auch der unzuverlässigen Erinnerung der fiktiven Autorin zuschreiben könnte: Livilla, die Frau des Tiberiussohnes Drusus, wird versehentlich als Tochter statt als Schwester des Germanicus bezeichnet (S. 113); die Geburtsdaten von Agrippinas Brüdern gehen etwas durcheinander: »kurz vor [ihrem] dreizehnten Geburtstag« (S. 116) soll der »beinahe zehn Jahre älter[e]« (S. 117) Nero »gerade siebzehn« (S. 118) sein; der Schwiegersohn Ovids hieß Cornelius Fidus, nicht »Fedelius« (S. 363; die Nachricht geht auf Sen. dial. 2, 17, 1 zurück).

Daneben gibt es die beim Goldmann-Verlag offenbar unvermeidlichen Fehler bei Satz und Übersetzung (allerdings verdient der Verlag immerhin Anerkennung für seine konsequente Pflege von Antiken-Romanen in seinem Programm).

Übersetzerfehler: »Basilika Emiliana« (S. 84), »eine Freske« (S. 97), »schwörte« (S. 169), die übertragene Bedeutung von »aigle« nicht erkannt (S. 170), »Ptolomäern« (S. 258), »Heller«(Anachronismus, S. 262), »Lucrino-See« (S. 281), »Carenen« (für Carinae, S. 285), »die Chäronea von Thracia« (S. 292), »Horaz« ist im Deutschen nur für den Dichter gebräuchlich, nicht für andere Horatii (S. 317), »Sabina« offenbar als Ortsname angesehen (S. 348).

Druckfehler: S. 162 ist ein Wort ausgefallen, »Caprena-Tor« (S. 165), »Verdienstes« (statt: Verdienst, S. 168), die Formen Vinicius und »Vicinius« wechseln ständig, »unten« (statt: unter, S. 219), »Polypius« (S. 240), »von allem« (statt: vor allem, S. 247), »jahre« (S. 295), »Lucillus« (statt: Lucilius, S. 296).

Grimals Porträt der machthungrigen Germanicustochter ist im ganzen überzeugend, wenn auch nicht unbedingt innovativ. Problematisch für viele Leser dürfte sein, daß einiges vorausgesetzt wird und sich manche Zusammenhänge erst erschließen, wenn man Vorkenntnisse über die römische Geschichte besitzt. Ich weiß z. B. nicht, ob der Spitzname »Caligula« im Roman auftaucht (S. 19 nur die Übersetzung »Stiefelchen«) und allen Lesern klar ist, wer mit »mein Bruder Gaius« gemeint ist. In ähnlicher Weise kommen zwar alle fünf auf Nero folgenden Kaiser vor, aber natürlich kann Agrippina ihre zukünftige Stellung nicht erwähnen. Somit bleibt das Buch doch eher ein gelehrtes als ein massenwirksames Unternehmen, zwar kein Roman nur für Professoren, aber doch zumindest für Leute, die Tacitus nicht für den Namen einer Krankheit oder einer Zierpflanze halten.